Die Baureihe 124, die erste namentliche E-Klasse, gilt unter den Puristen als „der letzte echte Mercedes“. Ob das stimmt klären wir heute nicht, aber was der klassische Dauerläufer heute noch kann probieren wir bei einer Probefahrt aus.
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Mercedes: Ein Nachfolger für das Millionenmodell
In den 80ern wurde in Sindelfingen und Bremen noch aus dem Vollen gefräst. Die Monopolstellung in der gehobenen Mittelklasse, die der 123er noch in sich trug, verwässerte langsam durch neue Modelle der anderen Hersteller – aber wer es in Deutschland zu etwas gebracht hatte, „gönnte“ sich noch immer einen Mercedes-Benz. Und man bekam ab 1984 ein sachliches, aufgeräumtes, robustes und zuverlässiges Fahrzeug, optisch angelehnt an den erfolgreichen 190er „Baby Benz“ und mit einem Cw Wert von anfänglich 0,29! Noch 1982 dachte man beim neu eingeführten Audi 100, dass sein Wert von 0,3 nicht zu toppen sei.
Zunächst produzierte man in Sindelfingen nur die Limousine und schob vor allem den Taxifahrern mit den drei Dieseltriebwerken (4, 5 und 6 Zylinder) eine neue Modellreihe auf den Werkshof. Die großzügigen Dimensionen der Karosserie sprachen sowohl für das Platzangebot im Inneren als auch für die Reparaturfreundlichkeit. Die Vorkammer Dieselmotoren waren mit unanfälligen Bosch Reiheneinspritzpumpen ausgestattet, man sagt, sie würden mit allem fahren (bis auf Margarine). Als der Spritpreis anzog freuten sich darüber besonders die Pflanzenölverbrenner. Zumindest im Sommer konnte man das gute Zeug einfach so in den Tank des W 124 kippen, ohne Umbaumaßnahmen. Der zündete das sauber weg. Erlaubt war es trotzdem nicht.
Mercedes: Einer für Alle
Die Zeit der optischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Motorvarianten war mit der Baureihe 124 vorbei. Äußerlich konnte man die Sechszylinder von den Vierzylindern nur durch die Doppelflöte hinten raus unterscheiden, und der 300 Diesel hatte seitliche Luftschlitze in der Frontschürze. Das war Understatement. Bekannte Ausstattungslinien wie „Elegance“ oder „Avant Garde“ wie beim Nachfolger W 210 gab es hier noch nicht, zu dem Grundmodell und seinem Motor gab es die berühmten, ellenlangen Listen an Extras, die dazu bestellt werden konnten. Das macht die verschiedenen Varianten, die heute noch herumfahren, recht abwechslungsreich und teilweise seltsam.
So gab es Fahrzeuge mit Klimaanlage, aber Fensterkurbeln statt elektrischen Fensterhebern. Oder mit Servolenkung und Schiebedach, aber ohne Radio. Farbige Stoffe und Kunststoffe ließen sich mit Zebrano, Wurzelholz oder gar Vogelaugenahorn kombinieren! Und nach der Limousine kamen nach und nach alle erdenklichen anderen Karosserieformen. Das T-Modell (S 124), ein Coupé (C 124), ein Cabriolet (A 124) und sogar eine offizielle Langversion mit sechs Türen (V 124), allesamt heute begehrte Sammlerobjekte. Der „Standard-Daimler“ war der 200er und der 230er. Wir sitzen heute in einem 260er Reihensechszylinder von 1988 mit magerer Ausstattung – aber Klimaanlage!
Tic Tac Toe – Six in a row.
Die Hochphase der ersten E-Klasse, in der sie billig gekauft und „aufgefahren“ wurde, ist schon lange vorbei. Wobei man sich wundert, wie lange es bei einigen Modellen gedauert hatte, bis die wirklich zerheizt waren. Die ersten Baureihen gelten heute als die robusteren. Man erkennt sie an den fehlenden Seitenverkleidungen an den Türkanten, den sogenannten „Sacco-Brettern“ (liebevoll auf den damaligen, genialen Chefdesigner anspielend). Da war es noch die „mittlere Klasse“. Mit der ersten Modellpflege 1989 wurde das Fahrzeug innen und außen modifiziert, mit der zweiten Modellpflege 1993 kam der Begriff E-Klasse – und mit ihm die Wasserbasislacke und die damit hinreichend bekannten Rostkatastrophen an vielen Fahrzeugen.
Der 12-Ventiler M 103 ist ein stoisch zuverlässiges Arbeitstier mit feiner Laufkultur. Der Sechszylinder arbeitet längs eingebaut kraftvoll unter der Haube, treibt den Kahn kommod nach vorn aber genehmigt sich auch ein gutes Schlückchen Super. Kein E10 übrigens. Der Luftfilter hat die Dimensionen eines Fußballstadions, auch sonst wirkt hier alles eher überdimensioniert. Das fühlt sich irgendwie gut an und strahlt passive Sicherheit aus. Aktive gibt’s in diesem Auto nämlich kaum. ABS ist an Bord, aber Airbags wollte der Erstbesitzer anscheinend nicht.
Ohmas Lehnsessel
Sie sind schon eine eigene Klasse, die Stühle in den sindelfinger Limousinen der 80er. Es sitzt sich nicht unbequem, irgendwie sachlich auf Federkernen wie im Wohnzimmer der Großeltern. Aber auch irgendwie steril. Das gesamte Innere der Baureihe 124 ist nüchtern, fast schon asketisch schlicht und perfekt aufeinander abgestimmt. Fans feiern das, ich persönlich mag darin weder sitzen noch dauerhaft drauf gucken. Mir ist das zu trocken, da trieft zu viel deutsches Beamtentum. Aber ich bin auch anders. Der Vorgänger W 123 war mir wiederum zu barock. Irgendwas ist ja immer.
Ersatzteile für einen W 124 (oder seine Varianten) sind auch heute noch so gut zu bekommen, dass man den Wagen locker im Alltag bewegen kann. Von Querlenkern über Bremsscheiben bis hin zu Auspuffteilen bekommt ihr alles noch im Zubehör, kein Wunder, von den über 2,5 Millionen produzierten Fahrzeugen fahren noch erstaunlich viele herum. Ein wichtiges Augenmerk sollte dem Rost gelten. „Der letzte echte Mercedes“ neigt je nach Pflegezustand dazu, quasi komplett auseinanderzufallen oder kerngesund dazustehen. Alles ist möglich.
W 124 ist entspannter Alltag
Wer zu viel Geld hat schielt auf einen 500 E (oder nach der Änderung der Nomenklatur E 500), der mit seinem mächtigen V8 in Kooperation bei Porsche zusammengebaut wurde. Die verbreiterten Kotflügel passten in Sindelfingen nicht auf’s Band. Die sind wirklich spektakulär, kosten aber auch so viel wie ein Einfamilienhaus. Alle anderen lassen sich auf einen genügsamen 230er ein und genießen fortan das einfache Autofahren ohne Piep und Blink. Herrlich.
Mercedes-Benz E-Klasse (W 124)
Karosserieversionen: Limousine, Kombi, Cabriolet, Coupé, Langlimousine
Ottomotoren: 2,0–6,0 Liter (77–280 kW)
Dieselmotoren: 2,0-3,0 Liter (53–108 kW)
Länge/Breite/Höhe: 4.655/1.740/1.425 mm
Leergewicht: 1.300 kg
Produktionszeitraum: 1984-1997